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Der Kaschmir-Konflikt und die UN

Die Region Kaschmir ist welt­weit haupt­sächlich auf­grund der gleich­namigen begehrten Wolle bekannt, gleich­zeitig ist sie jedoch stark umkämpft. Gefangen im Macht­anspruch dreier Atom­mächte, leidet vor allem die Zivil­bevölkerung unter der andauernden Gewalt. Der historische Ursprung ist viel­schichtig, so dass sich die inter­nationale Gemein­schaft mit einer ein­deutigen Positionierung schwer­tut.

Drei Soldaten sitzen auf einem Plateau. Zwischen ihnen liegt eine Landkarte, hinter ihnen sind zwei Flaggen, eine der UN. Im Hintergrund Gebirge und Täler.
Peacekeeper der Militärbeobachtergruppe der Vereinten Nationen in Indien und Pakistan (UNMOGIP) bei der Tagesplanung für die Beobachtung der Line of Control. Die Waffenstillstandslinie trennt die beiden Länder seit 1951. (UN Photo/Evan Schneider)

Wie ist der Konflikt entstanden?

Bei der häufig lediglich als Kaschmir bezeichnete Region handelt es sich um ein komplexeres Gebilde als der Name vermuten lässt. Historisch trug nur das Kaschmir-Tal diesen Titel, bevor im 19. Jahr­hundert zur Zeit Britisch-Indiens der Fürsten­staat Kaschmir und Jammu entstand. Heute ist dieses Gebiet fragmentiert und wird von unter­schied­lichen Staaten beherrscht. Das von Indien kontrollierte Gebiet unter­teilt sich in Kaschmir, Jammu und Ladakh. Daran angren­zend findet man Asad Kaschmir (übersetzt: freies Kaschmir) und Gilgit-Baltistan, die sich unter pakistanischer Verwal­tung befinden. 1963 wurde das Shaksam-Tal von Pakistan abgetreten, was zusammen mit Aksai Chin seitdem von China verwaltet wird. Der Sichaen-Gletscher konnte  bislang von niemandem unter voll­ständige Kontrolle gebracht werden.

Wichtigster Ausgangs­punkt des Kaschmir-Konflikts ist die Beendigung der Kolonial­herrschaft Groß­britanniens über Britisch-Indien und die Auf­teilung des Sub­kontinents 1947. Der indische Un­ab­hängig­keits­akt aus diesem Jahr markiert die Geburts­stunde der beiden National­staaten Indien und Pakistan. Obwohl der Fürsten­staat Jammu und Kaschmir mehr­heitlich von Muslimen bewohnt war, regierte dort der hindu­istischen Maharadscha Hari Singh. Singh wollte unab­ängig bleiben, um sowohl der hindu­istischen Elite ihre Privi­legien zu bewahren als auch die mehr­heitlich muslimische Bevölkerung zufriedenzustellen. Vertreter der Muslim­liga versuchten daher ihn im Vorfeld zu über­zeugen, sich dem pakistanischen Staat anzu­schließen. Als dies nicht gelang, begann Pakistan 1947 Auf­ständische zu unterstützen, um einen Anschluss zu erzwingen. Singh rief darauf­hin die indische Armee zur Hilfe. Die Bedingung Delhis für militärische Unter­stützung war der Anschluss des Fürsten­tums an Indien, worauf sich der Maharadscha schließlich einließ.

Indien und Pakistan führten deshalb 1965 und 1999 Krieg um Kaschmir. Darüber hinaus gibt es weiterhin un­zählige Vor­fälle, die von Schuss­wechseln an der Grenze, über Flug­zeug­abschüsse bis hin zur nuklearen Auf­rüstung beider Staaten reichen. 2019 entflammte der Konflikt neu, nachdem der seit 1947 geltenden Autonomie­status im indischen Teil Kaschmirs von der Regierung in Delhi auf­ge­hoben wurde. Damit wurde der Region nicht nur das Recht auf eine eigene Flagge und Konstitution ab­ge­sprochen, sondern erlaubt es nun auch Inderinnen und Indern aus anderen Bundes­staaten Wohn­eigentum in Kaschmir zu er­werben. Die Ent­scheidung hat im vom Indien kontrollierten Teil Kaschmirs, aber auch in Pakistan, große Proteste ausgelöst, da befürchtet wird, dass dadurch der umstrittene Status Quo zementiert wird.

Konfliktlinien und beteiligte Akteure

Indien beansprucht die Kontrolle des gesamten ehe­maligen Fürsten­staates Jammu und Kaschmir. Der Staat beruft sich dabei auf die von Maharadscha unter­schriebene Beitritts­urkunde aus dem Jahr 1947, welche auch die Grund­lage des Beitritts der anderen Bundes­staaten darstellt. Die zwischen 1951 und 1957 tagende verfassungs­gebende Versamm­lung von Jammu und Kaschmir bestätigte den Beitritt, was Indien als Zu­stimmung der Bevölkerung aus­legt und eine Volks­ab­stimmung über die Zuge­hörigkeit Kaschmirs obsolet mache. Darüber hinaus beschuldigt Indien Pakistan der Unter­stützung gewalt­tätiger Gruppen im Kaschmir-Tal, um eine Abspaltung von Indien zu begünstigen.

Pakistan hingegen vertritt die Ansicht, dass die von Maharadscha Singh unter­zeichnete Beitritts­urkunde keine Bedeutung besitzt, da er gegen den Willen der Bevölkerung seines Fürsten­tums gehandelt habe. Durch die mehr­heit­lich muslimische Bevölkerung hätte es zu einer Vereinigung mit Pakistan kommen müssen. Gestützt wird diese Sicht­weise durch den Umstand, dass die Bevölkerung regel­mäßig gegen die indische Zentral­regierung protestiert. Pakistan beansprucht den von Indien kontrollierten Teil Kaschmirs, nicht jedoch das von China beherrschte Gebiet.

China kontrolliert die Gebiete Aksai-Chin und das Shaksgam-Tal, welches 1963 von Pakistan abgetreten wurde. Durch das Abkommen haben China und Pakistan ihre Grenz­streitig­keiten geregelt, dies wird von Indien jedoch nicht anerkannt. Durch den Anspruch Indiens auf Gesamt­kaschmir sieht China seine Einfluss­sphäre gefährdet. Daher steht China in dem Konflikt auf der Seite Pakistans, was regelmäßig zu verbalen Aus­ein­ander­setzungen mit Indien führt. Hinzu kommt, dass an der nord­öst­lichen Grenze Indiens zu China ein weiterer ruhender Grenzkonflikt existiert, in dem China Land beansprucht, das von Indien kontrolliert wird. Immer wieder kommt es auch zwischen Indien und China zu bewaffneten Aus­ein­ander­setzungen in Kaschmir. Seit dem erneuten Ausbruch der Feind­selig­keiten im Mai 2020 wurden mehere Dutzend Soldaten getötet.

Wie in vielen Konflikten ist die Zivil­bevölkerung hauptleidtragend in den Aus­ein­ander­setzungen. 2018 veröffentlichte das Hohe Kommissariat der Vereinten Nationen für Menschen­rechte (OHCHR) zum ersten Mal einen Menschen­rechts­bericht über die Lage in Kaschmir und prangerte katas­trophale Zustände an. So kommt es im indisch verwalteten Teil Kaschmirs im Zuge von Protesten immer wieder zu überzogener Gewalt der indischen Sicher­heits­kräfte und un­recht­mäßigen Tötungen. Hinzu kommen systematische Sexual­verbrechen. Auf der anderen Seite legt der Bericht auch den Schluss nahe, dass Pakistan gewalttätige Gruppen im indischen Teil Kaschmirs unterstützt, die für Ent­führungen und Miss­brauch verantwortlich sind. Auch im pakistanisch verwalteten Gebiet kommt es zu Menschen­rechts­verstößen, welche die Meinungs-, Presse- und Versammlungs­freiheit ein­schränken. Insgesamt kamen bei dem Konflikt nach Angaben von Human Rights Watch bisher rund 50.000 Menschen ums Leben, wobei die Dunkel­ziffer höher liegen dürfte.

Die Rolle der internationalen Gemeinschaft

In einem Halbrund stehen Männer in traditioneller Kleidung, am Rand einige Kinder. In der Mitte stehen zwei UN-Soldaten. Im Hintergrund Gebirge.
Mitarbeiter der UN-Feldstation Gilgit mit Bewohnern von Minimarg. (UN Photo)

Indien brachte die Kaschmir-Frage bereits 1947 vor den Sicher­heits­rat. Darauf­hin begannen die Vereinten Nationen ihre Vermittlungs­bemühungen, die in einer Waffen­still­stands­linie mündeten, die nach wie vor gilt. Diese Grenze wird seit 1951 von der Militär­beobachter­gruppe der Vereinten Nationen in Indien und Pakistan (United Nations Military Observer Group in India and Pakistan - UNMOGIP) über­wacht. Die Gruppe hat ihren Haupt­sitz von November bis April in Islamabad und von Mai bis Oktober in Srinigar. Ins­gesamt verfügt die Friedens­mission über ein jährliches Budget von knapp 10 Millionen US-Dollar und 110 permanenten Beobachterinnen und Beobachtern im Einsatz (Stand Februar 2023).

Auch wenn im Laufe der Jahre eine Reihe von Resolutionen zu Kaschmir vom Sicher­heits­rat verabschiedet wurden, werden häufig nur wenige zitiert. Für Indien spielt besonders Resolution 1172 aus dem Jahr 1998 eine bedeutende Rolle. Zwar werden darin in erster Linie die Atom­waffen­tests von Indien und Pakistan verurteilt. Doch die Resolution spricht ebenso explizit den Kaschmir-Konflikt an. Beide Länder werden dazu auf­gerufen, eine ein­ver­nehm­liche Lösung für den Konflikt zu finden und Spannungen abzubauen. Indien sieht sich darin bestärkt, dass die Kaschmir-Frage mit Pakistan durch bi­laterale Ver­handlungen geklärt werden muss. Dies steht im Wider­spruch zu Resolution 47 aus dem Jahr 1948, in der gleich zu Beginn auf die Not­wendigkeit einer Volks­abs­timmung hin­gewiesen wurde, worauf sich Pakistan beruft.

Dieses Vorgehen steht exemplarisch für den Versuch der Konflikt­parteien, die Ver­mittlungs­bemühungen der Vereinten Nationen für eigene Interessen umzu­deuten. 2019 befasste sich der Sicher­heits­rat das erste Mal seit fast 50 Jahren mit dem Konflikt. China hat als Verbündeter Pakistans in der Kaschmir-Frage das Thema im Zuge der Änderung des Autonomie­status auf die Tages­ordnung gebracht. Dies wiederum rief Kritik Indiens hervor, das sich generell Vermittlungs­versuche der inter­nationalen Gemein­schaft verbietet, da es sich aus seiner Sicht um einen rein internen Konflikt handelt. Letzt­endlich war dies auch der Grund, warum sich die Mitglieder des Sicher­heits­rates weder auf ein gemeinsames Statement noch auf eine Resolution einigen konnten.

Theoretisch gibt es für die Zukunft Kaschmirs verschiedene Szenarien. Der Anschluss an Indien oder Pakistan sowie verschiedene Modelle zur Un­ab­hängig­keit bestehen. Vor allem die Idee eines unab­hängigen Kaschmirs findet sowohl auf indischer als auch pakistanischer Seite Befür­wortung, allerdings liegen hierzu keine offiziellen Zahlen vor. Gemäß des von den Vereinten Nationen proklamierten Selbst­bestimmungs­recht der Völker wäre daher eine Befragung der Bevölkerung sinnvoll, was bereits 1948 vom Sicher­heits­rat gefordert wurde. Auch wenn dies vor allem von Indien vehement abge­lehnt wird, hat auch Pakistan kein Interesse an einem un­vorteil­haften Ausgang solch einer Abstimmung. Beide Staaten setzen alles daran, dass ihre territoriale Integrität nicht gefährdet wird und sie die Kontrolle über die von ihnen verwalte­ten Gebiete behalten. Aus diesem Grund ist es am wahr­schein­lichsten, dass der Status Quo weiterhin bestehen bleiben und bis zu einer grund­sätzlichen Verschiebung der politischen Macht­verhält­nisse in der Region andauern wird.


Thomas Spange

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