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Algerien bricht die diplomatischen Beziehungen zu Marokko ab

Provokationen beiderseits führten im August zum offiziellen Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Algerien und Marokko. Eine Annäherung ist nicht in Sicht. Wie konnte es dazu kommen? Ein Überblick über das komplizierte Verhältnis zweier Nachbarn.

Eine Straße in Algiers
Zurück zu altem Glanz: Algerien präsentiert in der Konfrontation mit Marokko neues Selbstbewusstsein.

(Foto: hyde/flickr/CC BY-NC-ND 2.0/Algiers)

UN-Generalsekretär António Guterres forderte am 25. August 2021 Algerien und Marokko dazu auf, ihre diplomatischen Beziehungen „wiederherzustellen.“ Am Tag zuvor hatte der algerische Außenminister Ramtane Lamamra erklärt, die Beziehungen zum Nachbarland Marokko abzubrechen. Auslöser dafür war eine Erklärung Marokkos vor dem UN-Sonderkomitee für die Bewegung der Blockfreien Staaten, die Unabhängigkeitsbewegung der Kabyle zu unterstützen. Die Kabyle sind eine algerische ethnische Minderheit, die von Algerien selbst als terroristische Bewegung eingestuft wird. Von Seiten Algeriens wurde die marokkanische Unterstützungserklärung als Grenzüberschreitung wahrgenommen.

Das marokkanische Außenministerium erwiderte die Ankündigung Lamamras mit der Aussage, es bedauere die Entscheidung, sei aber nicht überrascht. Bereits einen Monat zuvor, am 19. Juli, hatte Algerien seinen Botschafter aus Marokko einberufen. Beide Staaten haben ihre Militärpräsenz an den Grenzen gestärkt. Eine militärische Auseinandersetzung wird weitestgehend für unwahrscheinlich gehalten. Algerien erklärte, dass die jeweiligen Konsulate sowie die direkten Gesprächskanäle weiterhin geöffnet bleiben.

Während Algerien mit diesem Schritt versucht eine klare Ansage gegenüber Marokko zu machen, werden die Auswirkungen zunächst gering sein: Die Beziehung zwischen den Nachbarn war bereits vorher auf Sparflamme, die Grenze seit 1994 geschlossen und wirtschaftliche Beziehungen auf einem Minimum. Stattdessen wird sich der Wettbewerb um die Stellung als Regionalmacht verschärfen.

Ein Verhältnis geprägt von Skepsis und Feindschaft

In seiner Ankündigung las Ramtane Lamamra eine detaillierte Liste der Konfrontationen und Provokationen zwischen den beiden Ländern seit ihren jeweiligen Unabhängigkeiten vor: Geographisch und historisch nah verbunden, ist das Verhältnis zwischen Marokko und Algerien seit deren Unabhängigkeiten – Marokko 1956 und Algerien 1962 - angespannt.

Bereits 1963 kam es wegen einer Streitigkeit über die Grenzziehung zur militärischen Auseinandersetzung, dem sogenannten Sandkrieg. Dieser wurde nach vier Monaten durch Vermittlung der Afrikanischen Union (AU) beendet und die alte Grenzziehung zu Gunsten Algeriens beibehalten. Die zugrundeliegenden Spannungen wurden jedoch nicht beigelegt.

Auslöser für den bis heute einflussreichsten Konfliktpunkt war der Grüne Marsch Marokkos im Jahr 1975, der den Beginn des militärischen Konflikts um die Westsahara markiert. Während Marokko das Gebiet für sich selbst beansprucht, unterstützt Algerien den Unabhängigkeitsanspruch der lokalen Bevölkerung der Sahrawi, vertreten durch die POLISARIO. Algeriens Positionierung in der Westsahara ist eine aktive Opposition Marokkos. Aber sie ist auch darüber hinaus motiviert: Geprägt von seinem langen und schweren Kampf für die eigenen Unabhängigkeit unterstützt Algerien bis heute Unabhängigkeitsbewegungen auf der ganzen Welt.

Nachdem Algerien 1976 die Demokratische Arabische Republik Sahara (SADR), den von den Sahrawi erklärten unabhängigen Staat, anerkannte, brach Marokko erstmalig die diplomatischen Beziehungen zum Nachbar ab. Dieser Bruch hielt bis 1988 an. Der Kollaps der Ölpreise 1986 löste gerade für das Öl exportierende Algerien eine wirtschaftliche Notlage aus und ermöglichte eine vorsichtige Annäherung zwischen den Nachbarn. Regionale Integration und Handel galten – und gelten bis heute – als nicht ausgeschöpfte Option der wirtschaftlichen Stärkung beider Länder. Mit genau diesem Ziel waren beide Staaten 1989 Gründungsmitglieder der “Arab Maghreb Union”, die ein wirtschaftlicher und politischer Verbund modelliert nach der Europäischen Union sein sollte. Die Streitigkeiten zwischen Algerien und Marokko führten dazu, dass aus der Union nie ein handlungsfähiger Akteur wurde.

1994 schließlich, während des algerischen Bürgerkriegs (1992 – 2002) warf Marokko dem algerischen Militär vor, für einen Terroranschlag in Marrakesch verantwortlich zu sein und schloss die Grenze. Diese Entscheidung wurde seither nicht revidiert.

Die lange Liste aktueller Streitfälle

Durch Amnesty International und Forbidden Stories, einer NGO, welche die Arbeit von Journalistinnen und Journalisten schützt, wurde im Juli 2021 die sogenannte Pegasus-Affäre aufgedeckt: Mit Nutzung israelischer Software überwachte Marokko tausende Akteure weltweit. Betroffen waren auch geschätzte 6.000 Algerierinnen und Algerier, darunter hochrangige Offiziere. Marokko streitet die Vorwürfe ab. Stattdessen nutzte König Mohammed VI seine jährliche Ansprache am Tag der Thronfeier am 27. Juli, um an Algerien für eine „aufrichtige Annäherung“ zu appellieren. Es sei im Interesse beider Staaten, die Grenzen zu öffnen und gemeinsam für regionale Stabilität und wirtschaftlichen Fortschritt zu arbeiten.

Als schwere Provokation nahm Algerien auch die Normalisierung der Beziehungen zwischen Marokko und Israel Ende 2020 wahr. Ähnlich wie in der Westsahara unterstützt Algerien auch die Unabhängigkeit Palästinas und präsentiert sich gerne als führender arabischer Unterstützer der palästinensischen Sache – auch auf internationaler Bühne. So war es zum Beispiel Algerien, welches während der gewaltsamen Auseinandersetzungen in Israel und Palästina zu einem Treffen des UN-Sicherheitsrates zu dem Thema aufrief.   

Diese klare Positionierung gegen Israel hat auch innenpolitische Gründe, denn sie findet Unterstützung bei 99 Prozent der algerischen Bevölkerung. Im Gegensatz zur algerischen Regierung selbst: diese kämpft für ihre Legitimität, gegen eine sich verschlechternde wirtschaftliche Lage und die weiterhin starke Hirak-Bewegung – die oppositionelle Massenbewegung, welche im April 2019 den Präsidenten Abdelaziz Bouteflika stürzte und nach wie vor einen radikalen politischen Umschwung fordert. So ist es im Interesse der algerischen – sowie auch der marokkanischen – Regierung, die Aufmerksamkeit der Bevölkerung durch außenpolitische Themen abzulenken.

Wir sind wieder da, und wir sind ernst zu nehmen

Unter Präsident Bouteflika war Algerien lange relativ isoliert. Dies war teils aus strategischen Gründen und später zunehmend der Krankheit des Präsidenten geschuldet, die es ihm nicht mehr erlaubte, Reisediplomatie zu pflegen. Abdelmadjid Tebboune, der algerische Präsident seit 2019, macht nun deutlich: Die Zeit der algerischen Lethargie in den internationalen Beziehungen, welche Marokko zu seiner eigenen Positionierung als Regionalmacht genutzt hat, ist vorbei. Und so soll den wiederholten Provokationen Marokkos die Stirn geboten werden.

Bei seinem ersten Auftritt bei der Afrikanischen Union im Februar 2020 verkündete Tebboune Algeriens „kraftvolle Rückkehr“ nach Afrika. Algerien bot sich 2020 gemeinsam mit Tunesien als Mediator im Libyen-Konflikt an – beide Staaten genießen großes Vertrauen wichtiger libyscher Konfliktparteien. Stattdessen wurde Marokko von der internationalen Gemeinschaft mit einbezogen. Ähnliches geschah in Mali nach dem Coup d’État im August 2020.

Den Konflikt zwischen Algerien und Marokko kann und wird die internationale Gemeinschaft nicht beilegen. Eher wird dieser in den kommenden Monaten weitere gegenseitige Provokationen hervorbringen. Der Konflikt in der Westsahara, als Eckpfeiler der Konfrontation, eskaliert nach 30 Jahren des Waffenstillstandes erneut und gießt Feuer auf die Flammen. UN-geführte Friedensverhandlungen machen keine Fortschritte. Am Rande der UN-Generalversammlung in New York versicherte Außenminister Lamamra seinem sahrawischen Amtskollegen Mohamed Salem Ould Salek erneut Algeriens uneingeschränkte Unterstützung für die Unabhängigkeit der Westsahara.

Internationale Akteure können und sollten jedoch den starken Fokus auf Marokko überdenken und Algerien als regionalen außenpolitischen Akteur ernstnehmen. Gerade auf dem afrikanischen Kontinent ist Algerien aus historischen Gründen ein Schwergewicht der Soft Power und kann sich so konstruktiv einbringen. Raum für eine aktive und positive Rolle Algeriens auf der internationalen Bühne könnte Aufmerksamkeit von der Konfrontation mit Marokko abziehen und die Nachbarschaft in den bisherigen abgekühlten aber friedlichen Status zurückführen.

Tonja Klausmann

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