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Debatte: Eine Reform des UN-Sicherheitsrats ist möglich

Das zentrale UN-Gremium blockiert sich selbst. Doch eine Änderung des Vetoprinzips gilt als aussichtslos. Dabei bedürfte es nur der richtigen Reformvorschläge, einer klugen Vorgehensweise und ausreichenden Drucks. Ein Meinungsbeitrag.

Die Ständigen Vertreter Russlands und Chinas stimmen im UN-Sicherheitsrat gegen die Teilnahme des Ständigen Vertreters der Ukraine bei einer Sitzung zur Nichtverbreitung von Waffen ab.
Die Ständigen Vertreter Russlands und Chinas stimmen im UN-Sicherheitsrat gegen die Teilnahme des Ständigen Vertreters der Ukraine bei einer Sitzung zur Nichtverbreitung von Atomwaffen. (UN Photo/Manuel Elias)

Der russische Angriff auf die Ukraine hat bei uns im Westen viele Grundsatzdebatten ausgelöst und gesellschafts-, sicherheits-, und energiepolitische Neupositionierungen gefordert. Was bis vor wenigen Jahren mehrheits­fähig war, ist es heute nicht mehr. Mit Finnland und Schweden haben sich sogar zwei bislang bündnisfreie Staaten zu einer NATO-Mitgliedschaft entschieden, und in der Schweiz denkt man über eine Neude­finition ihrer jahrhundertealten Neutralität nach. Alles Kurswechsel, die vor zwei Jahren noch undenkbar gewesen wären. Trotzdem sind sie heute Realität. Weil sich der Kontext geändert hat.

Debattiert wird seit Kriegsausbruch viel. Auffällig abwesend ist dabei jedoch die Diskussion über eine dringend notwendige Reform des UN-Sicherheitsrats. Obwohl mandatiert, internationalen Frieden und Sicherheit zu wahren, bleibt der Sicherheitsrat aufgrund des russischen Vetorechts in diesem Konflikt beschlussunfähig und praktisch zahnlos. Die Tatsache, dass diese Blockierungsmöglichkeit überhaupt be­steht, ist auf einen systemischen Fehler zu­rückzuführen.

Während in anderen Bereichen be­stehende Systeme an die geänderten Um­stände angepasst werden, wird bei einer Reform des Sicherheitsrats entweder ei­ligst auf die schiere Unmöglichkeit ver­wiesen. Oder man flüchtet sich in gut gemeinte „Mini-Reformen“, wie die Erhöhung der Rechenschaftspflicht bei An­wendung eines Vetos. Anstatt die Pro­bleme an der Wurzel zu packen, wirken solche Reformen kontraproduktiv, indem sie dem Status quo indirekt mehr Legitimität verleihen. Wenn auch das Unmög­lichkeitsargument nachvollziehbar klingen mag, rechtfertigt es nicht, sich nicht mit der Thematik auseinanderzusetzen. Dies möchten wir im Folgenden tun.

Vorschlag

Unser Vorschlag soll nicht an den Grundstrukturen des Sicherheitsrats rütteln: So unterscheiden wir weiterhin zwischen ständigen und nichtständigen Mitgliedern und verleihen den ständigen bei Abstimmungen ein höheres Gewicht. Auch die regionalen Verteilkriterien zur Vergabe der Sitze im Sicherheitsrat sollen beibehalten werden. Eine Bewahrung von Bewährtem also, um den ohnehin schwach entwickelten Reformwillen nicht zu überstrapazieren. Obwohl ein auf der „grünen Wiese“ entworfenes, neues kollektives Sicherheitssystem wo­möglich besser wäre.

Drei Reformelemente

Ziel unserer Reformvorschläge sind die Einführung einer Abstimmungsregel mit we­niger Blockierungspotential so­wie die Erhöhung der Repräsentativität und Legitimität des Sicherheitsrats. Es darf nicht sein, dass beispielsweise Indien mit einer Bevölkerung von 1,4 Milliarden weniger Gewicht hat als seine frühere Kolonialmacht Großbritannien mit 60 Millionen. Unser Vorschlag hat drei Elemente:

Erstens eine Erhöhung der Mitgliederzahl. Im heutigen 15er-System sind fünf Staaten (the permanent 5, „P5“) ständig im Sicherheitsrat vertreten (China, Frankreich, Russland, Großbritannien und die USA). Dazu bekommen zehn weitere, nichtständige Staaten je­weils für zwei Jahre einen Sitz. In unserem Vorschlag würden die ständigen Sitze von fünf auf zehn und die nichtständigen von zehn auf 15 erhöht. Der Sicherheitsrat bestünde neu anstatt aus 15 aus 25 Staaten.

Zweitens eine Bestimmung der ständigen Mitglieder auf der Basis objektiver Kriterien. Hier bieten sich die Bevölkerungszahl, das BIP und die freiwilligen Beiträge an das UN-Budget an. Aus unserer Sicht wäre es gerechtfertigt, die Be­völkerungszahl gleich zu gewichten wie die beiden Kriterien BIP und freiwillige Beiträge zusammen, die ihrerseits unter sich das gleiche Gewicht hätten: also 50 Prozent, 25 Prozent, 25 Prozent. Je nach Gewichtung dieser Kriterien resultiert natürlich eine andere Rangliste von Staaten. Interessanterweise würde es Russland – ein P5 Staat – aber in keiner der von uns analysierten zahlreichen Gewichtungsvarianten unter die ersten zehn Plätze schaffen. Das Land hat eine zu kleine Bevölkerung, und sein BIP entspricht lediglich jenem einer Mittelmacht, zum Beispiel Spanien. Auch Frankreich, ein weiterer P5-Staat, ist zu klein, um unter Anwendung der drei Kriterien in die P10 aufgenommen zu werden.

Gesicherte Plätze gäbe es für die USA, China, Indien und insbesondere auch Deutschland. Die uneingeschränkte An­wendung der Kriterienregel hätte jedoch zur Folge, dass nicht alle fünf UN-Regionen ständig im Sicherheitsrat vertreten wären: Afrika und Osteuropa würden fehlen. Um dieses Manko zu beheben, braucht es eine zusätzliche Bedingung: Jede Region soll mindestens einen ständigen Sitz erhalten. Damit würden es Russland als osteuropäischer und Nigeria als afrikanischer Repräsentant in den P10-Klub schaffen. Verbleibt das Problem des heutigen P5-Staates Frankreich. Wenn es im Rahmen einer Reform nicht gelingt, dessen Sitz zu „europäisieren“ (wonach es nicht aussieht), müsste eine Lösung ge­funden werden, die seine „erworbenen Rechte“ schützt. So könnte man den zehnten Sitz an Frankreich vergeben. Dies ergäbe folgende Sitzverteilung für die P10: Brasilien, China, Nigeria, Russland, USA gefolgt von Indien, Deutschland, Japan, Großbritannien und Frankreich. Alle Staaten erfüllen das objektive Auswahlkriterium, außer Russland und Nigeria, die es unter dem Titel „Regionsvertreter“, sowie Frankreich, das es unter dem Titel „erworbene Rechte“ in den Sicherheitsrat schaffen würde. Diese Liste sollte periodisch (alle 15 Jahre) überprüft und mit einfacher Mehrheit angepasst werden können.

Drittens eine Überarbeitung der Ab­stimmungsregel. Die heutige Einstimmigkeitsregel (Vetorecht) für die P5 kann natürlich nicht auf die P10 ausgedehnt werden. Sonst würde der Rat noch mehr blockiert. Für die Beschlussfassung schlagen wir vor, dass im 25er-Klub nur das einfache Mehr nötig ist (13), ergänzt durch die Zusatzbedingung, dass höchstens zwei der P10 ablehnen dürfen. Mit anderen Worten: drei der P10 könnten einen Beschluss verhindern. Das „Vetorecht“ würde damit moderat eingeschränkt. Ein „Fall Russland“, in dem ein Mitglied griffige Maßnahmen gegen sich selbst mit einem alleinigen Veto verhindern kann, wäre unmöglich. Auch die zahlreichen chinesisch-russischen so­genannten Doppelpack-Vetos würden künftig nicht mehr ausreichen.

Wenn nicht jetzt, wann dann?

So weit, so gut, aber wie bringt man eine solche Reform durch? Sie bedingt eine Änderung der UN-Charta und muss da­rum letztlich von den fünf heutigen Vetomächten genehmigt werden. Diese scheinen – wie alle bisherigen Reformversuche zeigen – wenig Lust zu verspüren, ihre 1945 erworbenen Privilegien aufzugeben. Henry Kissinger hat in seinem Buch „Staatskunst“ (2022) eindrücklich das Versagen der alten außenpolitischen Aristokratien beschrieben, die sich – obwohl oft zerstritten – bei der Verteidigung ihrer Privilegien rasch einig gewesen seien. Ähnlich kommt einem das Verhalten der heutigen P5 vor. So uneinig sie beim brutalen russischen Feldzug gegen die Ukraine auch sein mögen, es wäre keinem der P4 in den Sinn gekommen, das russische Veto grundsätzlich infrage zu stellen. Braucht es dazu erst den Einsatz von russischen Atomwaffen, bis man ernsthaft Änderungen ins Auge fasst? Hoffentlich nicht! Es braucht (I) moderate Reformvorschläge, kombiniert (II) mit einer klugen Vorgehensweise in der UN, er­gänzt (III) durch entschlossenen diplomatischen Druck der Änderungswil­ligen.

Kein radikaler Wechsel, mehrere Gewinner

Unsere Vorschläge führen nicht zu ei­nem radikalen Systemwechsel: Im Ge­genteil, sie basieren auf dem bestehenden Bauplan des Sicherheitsrates und belassen sogar gewisse Privilegien bei den P10, um die Wahrscheinlichkeit ei­ner Akzeptanz zu erhöhen. Sie verstoßen damit auch gegen den in Art 2 (1) der UN-Charta festgelegten Grundsatz der „souveränen Gleichheit“ der Mitglieder. Eigentlich ein zynisches Paradox, dass es einer Verletzung dieses Gleichheitsgrundsatzes bedarf, um Re­form­chancen zu verbessern. Ein Überbleibsel monarchistischer Denkmuster, in denen Ungleichheit Programm ist?

Was das Vorgehen anbelangt: In al­len bisherigen Reformabsichten hat man wegen des Vetorechts stets ein Scheitern antizipiert. Das Vetorecht käme in einem Reformprozess aber erst ganz am Schluss zum Tragen. Gemäß Artikel 109 der Charta könnten die Reformvorschläge in einer sogenannten „Allgemeinen Konferenz“ mit einer Zweidrittelmehrheit der Mitglieder der Generalversammlung zur Annahme empfohlen werden. Die P5 könnten al­so nicht verhindern, dass die Vorschläge auf den Tisch gebracht werden. Erst die Ratifikation könnten sie verweigern und damit ein Reformvorhaben sa­botieren.

Zum diplomatischen Druck: Von den vorgeschlagenen Änderungen profitieren viele Länder: Afrika erhält den seit Langem geforderten ständigen Sitz. Ebenso die G4-Staaten Brasilien, Deutschland, Indien und Japan. Und kein aktueller P5-Staat würde seinen Sitz verlieren. Die potentiellen Gewinner sollten sich zusammentun und auf einer Reform bestehen. Als Ultima Ratio könnten sie einen Boykott der Sicherheitsratssitzungen erwägen. Es bräuchte nur sieben Mitglieder, die den Sitzungen fernblieben, um den Rat be­schlussunfähig zu machen.

Der russische Angriff auf die Ukraine sollte genutzt werden, eine Reform­debatte zu lancieren. Dazu braucht es kreative Lösungsvorschläge, die Neues propagieren, ohne sich den Realitäten der internationalen Politik zu verschließen. Unser Vorschlag bewahrt, was be­wahrt werden kann, bringt aber eine höhere Repräsentativität und eine Zu­sammensetzung des Sicherheitsrats, die auf objektiven Kriterien beruht. Eine solche hätte zur Folge, dass der afrika­nische Kontinent, aber auch das bevölkerungsreichste Land Indien oder das europäische Schwergewicht Deutschland in den UN entsprechend ihrer weltpolitischen Bedeutung vertreten wären. Dies trifft insbesondere für Deutschland zu, das seit dem Ukrainekrieg eine EU-Führungsrolle übernehmen musste und dem auch in der NATO über kurz oder lang mehr Verantwortung auferlegt werden dürfte. Die vorgeschlagene Abstimmungsregel führt zudem dazu, dass dem Geburtsfehler der UN – dem Vetorecht – endlich etwas entgegengehalten wird.

Prof. em. Dr. Michael Ambühl ist emeritierter Professor für Verhandlungsführung und Konfliktmanagement an der ETH Zürich.

Nora Meier, forscht am Lehrstuhl für Politische ­Philosophie an der Universität Zürich.

Prof. em. Dr. Daniel Thürer ist emeritierter Professor für Völkerrecht und ausländisches Verfassungsrecht an der Universität Zürich.

 

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