Der vergessene Konflikt: Kamerun droht der Bürgerkrieg
Es war ein blutiges Massaker, das die Bewohner des Dorfes Ngarbuh in der Nordwestprovinz Kameruns erleben mussten. "Sie brechen die Türen auf, schießen auf diejenigen, die da sind, und zünden die Häuser an", berichtet ein Bewohner aus der betroffenen Gemeinde. Mindestens 22 Zivilisten, darunter 14 Kinder, sollen bei dem Angriff auf das Dorf im Februar getötet worden sein – mutmaßlich von den Sicherheitskräften der eigenen Regierung. Die spricht von einem "bedauernswerten Unfall" und spielt den brutalen Konflikt herunter, der seit Jahren im nordwestlichen, an Nigeria grenzenden Teil Kameruns heranwächst.
Kamerun: Zwei Sprachen, eine koloniale Vergangenheit
In dem zentralafrikanischen Staat stehen sich Separatisten und Sicherheitskräfte der Regierung in einem bewaffneten Konflikt gegenüber, der seine Wurzeln in der Zweisprachigkeit des Landes hat – und damit auch in seiner kolonialen Geschichte.
Als ehemalige Kolonie des Deutschen Reichs wurde Kamerun nach dem ersten Weltkrieg über den Völkerbund zwischen Großbritannien und Frankreich aufgeteilt. Großbritannien erhielt ein Mandat für die nordwestliche Grenzregion zu Nigeria, Frankreich für den weitaus größeren Rest des Landesgebietes. Die beiden Kolonialmächte prägten seitdem wesentlich – und teils gewaltsam – die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und die Kultur in ihren Mandatsgebieten. Im Nordwesten wurde Englisch die neue Amtssprache, außerdem orientierte sich das neue Rechts- und Bildungssystem an dem von Großbritannien. Im Rest des Landesgebietes prägte Frankreich die sozialen, rechtlichen und politischen Normen und schuf einen zentralistischen Staatsaufbau nach französischem Vorbild.
Als der französischsprachige Teil Kameruns 1960 seine Unabhängigkeit erlangte und sich der englischsprachige Teil nach einer Volksabstimmung an die neugegründete Republik anschloss, sollten sich eigentlich die Unterschiede der beiden Regionen in einer föderalen Struktur widerspiegeln. Zwar ist Kamerun bis heute offiziell eine zweisprachige Nation, doch der Föderalismus funktionierte bisher nur auf dem Papier – und zuletzt nicht einmal das.
Separatisten rufen neue Republik "Ambazonien" aus
Seit der Unabhängigkeit wurden unter der englischsprachigen Minderheit, die rund ein Sechstel der kamerunischen Bevölkerung ausmacht, immer wieder Stimmen laut, welche die Nordwestprovinz politisch und sozial benachteiligt sahen. So werden politische und administrative Ämter oft für Französischsprachige ausgeschrieben, auch der Unterricht und die Prüfungen an den öffentlichen Universitäten ist häufig ausschließlich auf Französisch. Viele englischsprachige Kameruner und Kamerunerinnen fordern daher seit Jahren mehr Föderalismus und politische Anerkennung.
Der schwelende Konflikt wurde seit der Unabhängigkeit jedoch lange unterdrückt und eskalierte schließlich im Jahre 2016, als der seit 1982 regierende Präsident Paul Biya neben dem Bildungssystem auch das Rechtssystem frankophonisieren wollte. Auf die friedlichen Proteste gegen die Reform im britisch geprägten Teil des Landes antwortete die Regierung mit Gewalt und hunderten willkürlichen Verhaftungen. Im Januar 2017 schaltete die Regierung in der Nordwestprovinz für drei Monate das Internet ab – einer der vielen fatalen Schritte, mit der die Regierung die ohnehin schon existierenden politischen Gräben zwischen den beiden Landesteilen weiter vertiefte. Separatisten riefen noch im selben Jahr eine eigene Republik mit dem Namen "Ambazonien" aus, sogar Nationalflagge und Währung hat man schon für die Idee einer neuen Nation entworfen.
In der anglophonen Krise sind vor allem Kinder die Leidtragenden
Ein funktionierendes Bildungssystem fehlt allerdings in der international nicht anerkannten Republik: Nach Angaben von UNICEF sind dort mehr als 80 Prozent der Schulen geschlossen, weil einige separatistische Gruppierungen Schulen als verlängerten Arm der verhassten Regierung sahen und sie daher blockierten oder angriffen. Mehr als 855.000 Kinder können in der Folge des Boykotts daher nicht mehr zur Schule gehen.
Ein Bürgerkrieg droht und kaum einer schaut hin
Die anglophone Krise in Kamerun ist trotz aller dramatischer Entwicklung ein Konflikt, der sich abseits der internationalen Aufmerksamkeit abspielt. "Die Angriffe auf Zivilisten nehmen immer weiter zu", sagt die UN-Koordinatorin für humanitäre Angelegenheiten in Kamerun Allegra Baiocchi. Trotzdem müssten aufgrund der Unterfinanzierung von Hilfsprogrammen viele Betroffene "ohne jede humanitäre Hilfe unter härtesten Bedingungen leben", so Baiocchi.
So konnten nur rund 40 Prozent der Betroffenen 2019 von den Vereinten Nationen und ihren lokalen Partner versorgt werden – was nicht zuletzt daran liegt, dass sich die kamerunische Regierung unter Paul Biya quer stellt. "Die Regierung versucht, unsere Arbeit zu gefährden und uns in schlechtem Licht dastehen zu lassen", sagte der UNOCHA-Koordinator für humanitäre Hilfe in Kamerun Mobido Traore in einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur The New Humanitarian. "Sie wollen nicht, dass Außenstehende mitbekommen, was hier passiert."
Hunderttausende sind auf der Flucht
Was in der Nordwestprovinz Kameruns gerade passiert, ist indes dramatisch: Die Kämpfe zwischen separatistischen Gruppierungen und Regierungskräften forderten seit 2016 mehr als 3000 Tote, rund 680.000 Menschen sind nach Angaben der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR in der Region seitdem auf der Flucht. Die Dunkelziffer könnte hier erheblich höher sein, da sich viele vor der ausufernden Gewalt in der Wildnis verstecken müssen.
Ein kleiner Hoffnungsschimmer: Angesichts der Corona-Pandemie erklärte die separatistische militante Gruppierung „Southern Cameroon Defence Forces“ eine Waffenruhe ab dem 29. März und folgt damit dem Ruf nach einer globalen Waffenruhe von UN-Generalsekretär António Guterres. Die größte militante Separatistengruppierung Ambazonian Defence Forces (ADF) will sich allerdings nicht der Waffenruhe anschließen – die Kämpfe werden also mutmaßlich weitergehen.
Für Allegra Baiocchi muss die anglophone Krise in Kamerun endlich auf die Agenda der Vereinten Nationen gesetzt werden. Sie forderte bereits letztes Jahr: „Kamerun darf heute keine vergessene Krise mehr sein.“ Der UN-Sicherheitsrat hat sich jedoch bisher noch nicht dazu geäußert.
Philipp Nöhr