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„Haiti ist eine vergessene Krise“

Erdbeben, Bandenkriminalität und Hunger: Die Situation in Haiti ist verheerend. Dennoch liegt die mediale Aufmerksamkeit meist anderswo. Warum ist das so? Ein Gespräch mit Daniela Simm von der Diakonie Katastrophenhilfe.

Mehrere Menschen packen fußballgroße braune Wurzeln in weiße Säcke
Nach dem fatalen Erdbeben auf Haiti im Jahr 2021 werden Yamswurzeln als landwirtschaftliche Soforthilfe verteilt. (Foto: Diakonie Katastrophenhilfe)

DGVN: Frau Simm, Haiti gilt als ärmstes Land der westlichen Hemisphäre und steckt seit Jahren in einer politischen und humanitären Dauerkrise. Wie konnte es dazu kommen?

Dafür gibt es so viele verschiedene Antworten, wie man Menschen fragt. Haiti liegt in einer Erdbebenzone und wird oft von Wirbelstürmen getroffen. Kleine Länder haben es meistens schwerer, sich von Naturkatastrophen zu erholen – insbesondere dann, wenn es sich um einen Inselstaat wie Haiti handelt. Auch politisch gab es lange keine Stabilität. Verschiedene Diktatoren lösten sich ab, Truppen der USA und der Vereinten Nationen sollten für Frieden sorgen, doch das gelang nicht dauerhaft. Meine haitianischen Kolleginnen und Kollegen würden zudem mit der Geschichte des Landes argumentieren, um die Krisen der Gegenwart zu erklären: Haiti hat sich nicht durch eine Revolution von der französischen Kolonialmacht befreit, sondern sich freigekauft. Die dadurch entstandenen Schulden beeinflussen das Land ökonomisch bis heute.

Was sind derzeit die größten Schwierigkeiten?

Die Ernährungssituation hat sich in den letzten Monaten enorm verschlechtert. Der Preis für einen sogenannten ‚Food Basket‘, also für die Menge an Nahrung, die eine Familie benötigt, ist vom Jahr 2021 auf 2022 um 61 Prozent gestiegen. Die Hälfte der haitianischen Bevölkerung ist von Hunger betroffen. Es herrscht eine enorme Inflation und die Treibstoffpreise explodieren. In abgelegenen Gebieten gibt es kaum noch eine normale Stromversorgung und die Menschen sind auf Generatoren angewiesen. Verschärft wird die Situation dadurch, dass sich das Land noch nicht von der letzten großen Naturkatastrophe erholt hat.

Sie sprechen von dem verheerenden Erdbeben am 14. August 2021. Wie ist der Stand der Aufbauarbeiten?

Wir hatten erwartet, dass nach eineinhalb Jahren der Wiederaufbau abgeschlossen wäre, aber leider geht es nur sehr schleppend voran. Die Soforthilfe am Anfang – finanzielle Unterstützung, neues Saatgut für die Landwirtschaft und Ähnliches – kam schnell an. Kurz nach dem Erdbeben gab es noch humanitäre Korridore, um mit Lastwagen auch in entlegene Regionen zu gelangen. Doch das ist mittlerweile nicht mehr möglich, denn die Versorgungskrise wird durch eine Sicherheitskrise verschärft. Kriminelle Banden haben immer mehr an Einfluss gewonnen und besetzen die Ausfallstraßen der Hauptstadt Port-au-Prince. Wir arbeiten vor allem im Département Grand‘Anse im Südwesten der Insel, in relativ abgelegenen Gebieten. Zurzeit ist es fast nicht mehr möglich, Baumaterialien für den Wiederaufbau dorthin zu transportieren.

Welche Rolle spielen kriminelle Banden derzeit im Land?

Verschiedene Gangs haben ganze Stadtviertel von Port-au-Prince und den Westen Haitis unter ihrer Kontrolle. Sie treiben Schutzgelder ein, besetzen Straßen und Häfen, entführen Menschen und erpressen so Gelder. Was das Ganze noch schwieriger macht, ist, dass viele verschiedene Banden gleichzeitig operieren, weshalb es immer wieder gewaltvolle Zusammenstöße zwischen Gangs oder mit der Polizei gibt. Vor Kurzem wurde der Generalinspektor der haitianischen Polizei entführt, als er seine Tochter in Port-au-Prince in die Schule bringen wollte. Da fragen sich natürlich viele Eltern, ob sie ihre Kinder noch zur Schule schicken sollen, oder ob das zu gefährlich ist. In einigen Regionen gehen 60 Prozent der Kinder seit Wochen nicht zur Schule.

Einige Anführer von Bandenallianzen stehen nun auf Sanktionslisten der Vereinten Nationen. Im Juli 2022 hat der UN-Sicherheitsrat dazu aufgerufen, Waffenlieferungen an nicht-staatliche Akteure in Haiti unverzüglich zu stoppen. Was müsste Ihrer Ansicht nach geschehen, um die Eskalation der Gewalt vor Ort einzudämmen?

Wir als humanitäre Organisation agieren nicht auf politischer Seite, aber suchen natürlich nach Wegen, um die Menschen zu unterstützen. Eine funktionierende Regierung wäre dringend nötig, um die Lage zu verbessern. Bereits im Jahr 2019 waren neue Parlamentswahlen angesetzt, doch seit der Ermordung des Präsidenten Jovenel Moïse im Jahr 2021 konnten in Haiti keine Wahlen durchgeführt werden und es gibt nur eine Interimsregierung. Es ist ein verheerender Kreislauf: Die schwierige Sicherheitslage verhindert Wahlen, wodurch sich die Versorgungslage nicht bessert. Ab und zu sehen wir auch etwas Licht am Horizont. Wir haben von zivilgesellschaftlichen Allianzen gehört, die sich für Wahlen und die Reformierung der Verfassung stark machen. Wir als Diakonie Katastrophenhilfe versuchen, programmatisch auf die veränderte Sicherheitslage einzugehen. Wir sind stärker im ländlichen Bereich tätig, dort, wo andere Hilfsorganisationen nicht so leicht hinkommen. Denn wir arbeiten nur mit lokalen Partnerorganisationen zusammen. Wir haben sehr gute Erfahrungen damit gemacht, Gemeinden zu befähigen, ihre Bedarfe selbst zu artikulieren und kleinere Summen eigenständig umzusetzen. Unser Ansatz ist es, die Zivilgesellschaft zu stärken und so zu einem friedlicheren Miteinander beizutragen und damit die Resilienz gegenüber der nächsten Katastrophe zu erhöhen.

Ein Großteil Ihres Teams besteht aus Haitianerinnen und Haitianern. Sind Mitarbeitende von nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) oder UN-Organisationen gefährdet, Opfer von Entführungen zu werden?

Wir arbeiten mit Partnerorganisationen zusammen, die auf lokaler Ebene im ganzen Land verteilt sind. Es gibt auch ein Büro in Port-au-Prince für die technische und methodische Stärkung. Aber es sind unsere lokalen Mitarbeitenden, die direkt mit der Bevölkerung arbeiten. Bisher hatten wir nicht den Eindruck, dass Entführungen besonders auf NGOs abzielen. Aber unsere Mitarbeitenden leben nicht in gesonderten Vierteln, darum sind sie natürlich genauso von dem allgemeinen Mangel und der Unsicherheit betroffen, wie alle anderen Menschen in Haiti auch. Die Arbeit hat sich insofern verändert, dass nicht mehr so oft in unterschiedliche Gebiete gereist wird, sondern so viel wie möglich aus dem Homeoffice erledigt wird. Und wir haben Sicherheitsberatungen vor Ort eingerichtet.

Sind Frauen und Mädchen von der schwierigen Lage besonders betroffen?

Ja. Insgesamt hat die Gewalt in den letzten Jahren massiv zugenommen, vor allem aber auch genderbasierte und sexuelle Gewalt. Sie wird bei Entführungen und ähnlichem angewandt, um Macht zu demonstrieren. Das ist die eine Seite. Doch wenn die allgemeine Lebenssituation schlecht ist, dann ist oft auch die Konfliktlösung in der Familie gewaltvoller. Das Gewaltlevel der Umgebung sorgt für mehr Gewalt zuhause, wovon Frauen und Mädchen besonders betroffen sind. Darum versuchen wir nun auch, verstärkt in diesem Bereich Präventionsarbeit zu leisten und Schutzstellen einzurichten.

Portraitfoto von Daniela Simm, die vor einem grauen Hintergrund stehend in die Kamera lächelt
Daniela Simm ist Kontinentalverantwortliche für Lateinamerika und die Karibik der Diakonie Katastrophenhilfe. (Foto: Hermann Bredehorst/ Diakonie Katastrophenhilfe)

Volker Türk, der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte, war im Februar 2023 auf Haiti und zeigte sich sehr besorgt. Zum Abschluss seines Besuchs sagte Türk, die Situation dort bekomme nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdiene. Stimmen Sie dem zu?

Haiti ist eine vergessene Krise, sowohl was die Finanzierung als auch die Berichterstattung darüber anbelangt. Auch die internationalen Geberländer setzen nicht die höchste Priorität auf Haiti, denn die Töpfe des UN-Kinderhilfswerks (UNICEF) und des Amts für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA), sind noch nicht einmal zur Hälfte finanziert. Das liegt sicherlich auch daran, dass in den vergangenen zwei Jahren viele humanitäre Krisen gleichzeitig eingetreten sind. Was die Berichterstattung anbelangt, denke ich auch, dass Haiti etwas unter dem Radar bleibt. Aber ich finde auch, dass man differenziert berichten sollte. Dass nicht nur die Gewalt und Hoffnungslosigkeit im Mittelpunkt stehen, sondern dass es sich lohnt, für eine bessere Zukunft Haitis zu arbeiten. Trotz allem ist es ein bemerkenswertes Land, mit unglaublich vielen Dichtern und Künstlern.

Können Kunst- und Kulturveranstaltungen derzeit stattfinden?

Es kommt darauf an, wo man ist. Was mich sehr beeindruckt hat, war, dass sich die Haitianerinnen und Haitianer den Karneval nicht haben verbieten lassen. Trotz allem sind sie in Massen auf die Straßen gegangen und haben gefeiert. Das ist doch ein Hoffnungsschimmer.

Das Interview führte Gundula Haage

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