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Rückfall in existentiellen Konflikt in Nahost

Mit der Abkehr der israelischen Regierung von einer Zweistaatenregelung steht der israelisch-palästinensische Konflikt vor einer Zäsur. Drei aktuelle Vorgänge im UN-System könnten zumindest zur Klärung der Rechtslage beitragen.

Blicker über die Stadt von Jerusalem mit der goldenen Kuppel des Felsendoms.
Blick auf Jerusalem. (UN Photo/Rick Bajornas)

Das Ziel des friedlichen Nebeneinanders: Die Oslo-Abkommen sollten den israelisch-palästinensischen Konflikt durch Verhandlungen über eine Teilung des ehemaligen britischen Mandatsgebietes Palästina und eine einvernehmliche Regelung der Flüchtlingsfrage befrieden. Doch dieser in den 1990er-Jahren vereinbarte Ansatz muss heute als gescheitert angesehen werden.

Zwar wurden in offiziellen Verhandlungen und durch zivilgesellschaftliche Initiativen Lösungsansätze erarbeitet. Von einer Einigung haben sich die Konfliktparteien jedoch immer weiter entfernt.

Einstaatenrealität

Vielmehr sind Israel und die palästinensischen Gebiete heute durch eine komplexe Einstaatenrealität geprägt: Israel hat die übergeordnete Kontrolle über Territorium, Land- und Seegrenzen (mit Ausnahme der Grenze zwischen Gazastreifen und Ägypten), Küstengewässer, Luftraum und Ressourcenausbeutung. Die Palästinensische Autonomiebehörde ist in ihrer Zuständigkeit auf innere Ordnung und Selbstverwaltung im Westjordanland beschränkt. Dabei ist sie maßgeblich von israelischen Genehmigungen und Transferleistungen abhängig.

Das palästinensische Territorium ist von Siedlungsinfrastruktur durchzogen und die Bewegungsfreiheit zwischen den voneinander isolierten Gebieten eingeschränkt. Rund acht Prozent des Westjordanlandes werden durch die Sperranlagen abgetrennt und die Zahl der jüdischen Siedlerinnen und Siedler im Westjordanland und in Ost-Jerusalem ist auf über 680 000 angestiegen. In für Israel ideologisch oder strategisch bedeutsamen Gebieten, wie Hebron, Ost-Jerusalem und dem Jordangraben, wird die palästinensische Bevölkerung zunehmend verdrängt. Der Gazastreifen ist seit 2006 nahezu vollständig abgeriegelt, die lokale Wirtschaft liegt brach.

Zur Zersplitterung trägt nicht zuletzt die innerpalästinensische Spaltung bei. Seit 2007 kontrolliert die islamistische Hamas den Gazastreifen. Das Westjordanland wird von der Fatah-Partei unter Präsident Abbas regiert. Alle Bemühungen um eine Aussöhnung zwischen den konkurrierenden, zunehmend autoritären Regierungen waren bislang vergeblich.

Den Bewohnerinnen und Bewohnern im Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordanfluss werden je nach Staatsbürgerschaft, religiös-ethnischer Zugehörigkeit - jüdisch/arabisch - und Wohnort - Israel, (West-/Ost-)Jerusalem, A-, B-, C-Gebiete des Westjordanlandes oder Gazastreifen - unterschiedliche Rechte zugestanden beziehungsweise vorenthalten.

Von der Besatzung zur Annexion

Mit der israelischen Regierungskoalition, die seit Ende Dezember 2022 im Amt ist, zeichnet sich eine Zäsur ab. Sie hat sich endgültig von einer Zweistaatenregelung abgewandt und zielt auf eine dauerhafte Kontrolle des Westjordanlandes ab. Mit den erfolgten Umstrukturierungen im Verteidigungsministerium wurden bereits entscheidende Schritte unternommen: von einer temporären, militärischen Besatzung - die unter bestimmten Bedingungen völkerrechtskonform sein kann - zu einer dauerhaften zivilen Kontrolle – sprich Annexion – die grundsätzlich völkerrechtswidrig ist. Ebenso beabsichtigt die Regierung, das israelische Zivilrecht auf die Siedlungen auszuweiten, was sie als „Anwendung von Souveränität“ bezeichnet.

Außerdem möchte sie die Siedlungspolitik vorantreiben. Im Mittelpunkt stehen dabei die sogenannten C-Gebiete, also die knapp 60 Prozent des Westjordanlandes, die weiterhin unter direkter israelischer Verwaltung stehen. Hier sollen Fakten geschaffen werden: unter anderem durch massive Investitionen in den Ausbau von Infrastruktur und Siedlungen sowie durch die Legalisierung der bislang selbst nach israelischem Recht illegalen Siedlungsaußenposten, die häufig auf privatem palästinensischem Land errichtet wurden.

Damit droht nicht nur der Rückfall in einen existentiellen Konflikt um das gesamte Territorium zwischen Mittelmeer und Jordanfluss; auch das Risiko einer Eskalation der Gewalt ist hoch.

Blick in die Sitzung der UN-Generalversammlung mit vielen Tischen und zwei Bildschrimen, auf denen der palästinensische Präsident Mahmud Abbas zu sehen ist.
Der palästinensische Präsident Mahmud Abbas spricht zur 76. Sitzung der Generalversammlung. (UN Photo/Cia Pak)

Machtlose UN

Auch wenn die UN Hüterin der internationalen Rechtsordnung ist: Beim Menschenrechtsschutz in den besetzten Gebieten und bei der friedlichen Konfliktbearbeitung spielen die UN eine untergeordnete Rolle. Zwar lindern sie, allen voran das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA), die humanitären Kosten des Konfliktes. Auch berichten der UN-Sonderkoordinator für den Nahost-Friedensprozess und die Sonderbericht­ erstatterin über die Menschenrechtssituation in den seit 1967 besetzten palästinensischen Gebieten regelmäßig vor UN-Gremien. Außerdem debattieren der Menschenrechtsrat sowie der UN-Ausschuss für die Ausübung der unveräußerlichen Rechte des palästinensischen Volkes über die Palästina-Frage. Doch diese Debatten (und die routinemäßigen Resolutionen) finden international kaum Beachtung und zwingen die UN-Mitgliedstaaten nicht zum Handeln.

Auch wenn der UN-Sicherheitsrat mit seiner Resolution 2334 (2016) seine Unterstützung für eine Zweistaatenregelung bekräftigte, hat er in den letzten Jahren – nicht zuletzt aufgrund des häufigen US-Vetos – keine Rolle in der friedlichen Konfliktbearbeitung gespielt. Auch das 2002 geschaffene Nahost-Quartett, dem neben den USA, Russland und der EU auch die UN angehören, ist seit Langem nicht mehr aktiv. Eine Wiederbelebung ist vor dem Hintergrund der Spannungen zwischen Russland und dem Westen auf absehbare Zeit nicht zu erwarten.

Für die rechtliche und politische Bewertung der Situation dürften in der nächsten Zeit vor allem drei Vorgänge relevant sein: (1) die Einschätzungen der im Mai 2021 vom UN-Menschenrechtsrat eingesetzten Untersuchungskommission, die neben der konkreten Gewalteskalation im April/Mai 2021 auch die strukturellen Konfliktursachen untersucht; (2) die im März 2021 eingeleitete Untersuchung der Lage in Palästina vor dem Internationalen Strafgerichtshof (beide befassen sich mit mutmaßlichen Verstößen und Verbrechen beider Seiten); und (3) das im Dezember 2022 von der UN-Generalversammlung beim Internationalen Gerichtshof angeforderte Rechtsgutachten über die Rechtmäßigkeit und die Rechtsfolgen der auf Dauer angelegten Besatzung.

Die Dokumentation der Fakten und der Klärung der Rechtslage sind angesichts der zunehmenden Verdrehung von Tatsachen und der Negierung von Ansprüchen enorm bedeutsam. Ob sie auch zu einem Ende der Straflosigkeit für Menschenrechtsverletzungen und Völkerrechtsbrüchen führen – die Basis für ein friedliches Zusammenleben –, hängt vor allem davon ab, ob die UN-Mitgliedstaaten zu entsprechenden Maßnahmen bereit sind. Das Abstimmungsverhalten derjenigen Länder, die sich entschieden für die Verfolgung russischer Kriegsverbrechen einsetzen, ist mit Blick auf alle drei Vorgänge wenig ermutigend.

Dr. Muriel Asseburg, Senior Fellow in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP)

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