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Die Möglichkeiten der UN im Ukraine-Krieg

Politik, Völkerrecht und Humanitäres: Welchen Handlungsspielraum haben die Vereinten Nationen in Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine? Ein Überblick.

Blick in den Saal der UN-Generalversammlung. Eine Anzeigetafel zeigt das Ergebnis der Stimmen für die Resolution zur Ukraine (140-5-38).
Die UN-Generalversammlung nach der Abstimmung über den Resolutionsentwurf zur Lage in der Ukraine. (UN Photo/Mark Garten)

Von allen Organisationen tragen die Vereinten Nationen die größte Verantwortung für die Wahrung und Wiederherstellung des Weltfriedens. Und von allen Katastrophen werden die Vereinten Nationen am dringendsten in gewaltsamen Konflikten benötigt. Im laufenden Krieg Russlands gegen die Ukraine offenbaren sich (zum wiederholten Male) zwei Erkenntnisse über die UN: So wie die UN aufgebaut sind, können sie erstens in Konflikten wie diesem ihrer Hauptaufgabe nicht nachkommen, nämlich Maßnahmen zu ergreifen, um schnellstmöglich ein Ende der Gewalt zu erreichen. Nichtsdestotrotz tragen sie zweitens gerade jetzt auf verschiedenen, weniger sichtbaren und in Teilen auch weniger direkten, Wegen zum Frieden bei – unter anderem politisch, gerichtlich und nicht zuletzt auch humanitär. Doch weshalb unternehmen sie nicht mehr und was leisten sie dennoch?

Während die Charta der UN dem Sicherheitsrat das Recht einräumt, auf Bedrohungen des internationalen Friedens mit allen geeigneten diplomatischen, ökonomischen und militärischen Maßnahmen zu reagieren, enthält sie zugleich diejenige Bedingung, die sich aktuell als Hindernis erweist: Sofern sie nicht verfahrensmäßiger Natur sind, können Entschließungen des Sicherheitsrates nur verabschiedet werden, wenn keines der fünf ständigen Mitglieder gegen sie stimmt. Das ständige Mitglied Russland macht von diesem sogenannten Vetorecht gerade Gebrauch. Damit verhindert es, dass der Sicherheitsrat den russischen Angriff auf die Ukraine in einer Resolution als Bedrohung des internationalen Friedens klassifizieren, als Verstoß gegen die Charta verurteilen und Zwangsmaßnahmen gegen Russland verhängen kann. Die anderen Mitglieder des Sicherheitsrates haben deshalb mit einem prozeduralen Beschluss ohne Veto-Möglichkeit am 27. Februar 2022 ein altes Verfahren aktiviert, um die Blockade zu umgehen und die Generalversammlung mit der Angelegenheit zu betrauen.

Die Generalversammlung übernimmt: Uniting for Peace

Die Generalversammlung trat einen Tag später in einem Uniting-for-Peace-Format zu einer Notstandssitzungzusammen und verabschiedete nach einer mehrtätigen Aussprache am 2. März die Resolution ES-11/1, die sich stark am Entwurf orientierte, der zuvor im Sicherheitsrat gescheitert war. Mit 141 Ja-Stimmen, fünf Nein-Stimmen und 35 Enthaltungen verurteilte die Weltgemeinschaft darin den Angriff auf die Ukraine und forderte Russland auf, die Kampfhandlungen unverzüglich einzustellen sowie seine Streitkräfte vollständig und bedingungslos abzuziehen. Und obwohl die Resolution keine Empfehlungen konkreter Maßnahmen enthält, ist es von Bedeutung, dass es sie gibt: Weil Russland den Charakter und das Ausmaß dieses Krieges zu verschleiern versucht, ist umso wichtiger, dass nun auch durch die Vereinten Nationen festgehalten ist, dass es sich bei der „Militäroperation“ Russlands um eine Aggression handelt, die gegen zentrale völkerrechtliche Grundsätze, allem voran das Gewaltverbot und die Unverletzlichkeit der territorialen Integrität, verstößt und damit die Charta bricht. Auch hat die Abstimmung nicht nur dokumentiert, dass fast Dreiviertel aller Staaten uneingeschränkt dieser Auffassung folgen, sondern auch, in wessen Gesellschaft sich Russland spätestens mit diesem Krieg begeben hat – nämlich in die Gesellschaft anderer Diktaturen, die ebenso wenig wie Russland davor zurückschrecken, massive Gewalt einzusetzen.

Seit diesem ersten Schritt setzten sowohl der Sicherheitsrat als auch die Generalversammlung ihre Beschäftigung mit dem Krieg gegen die Ukraine fort. Doch substanzielle Beschlüsse kann der Sicherheitsrat dazu auch weiterhin nicht fassen. Nach mehreren Briefings durch hochrangige UN-Beamte zur humanitären Krise in der Ukraine hatte auch er dieses Thema diskutiert, die Resolution dazu jedoch nicht verabschiedet. Diese eingereicht hatte nämlich Russland, gemeinsam mit Nordkorea und Syrien. 13 Mitglieder des Sicherheitsrates enthielten sich daraufhin – mit der Begründung, dass sie das Leid der Zivilbevölkerung anerkennen, Russlands Resolutionsentwurf jedoch für ein scheinheiliges Manöver halten, weil Russland selbst dieses Leid verursache.

Auch zuvor hatten die Sicherheitsratsmitglieder deutliche Worte gefunden, insbesondere bei Sitzungen, in denen es um zwei schwerwiegende, doch unbelegte Anschuldigungen Russlands gegen die Ukraine ging. In einer solchen Sitzung hatte die UN-Abrüstungsbeauftragte dem Sicherheitsrat dargelegt, es gebe keine Beweise für ukrainische Biowaffenprogamme; in einer anderen Sitzung kam die Anordnung des Internationalen Gerichtshofs zur Sprache, die feststellte, es gebe keine Beweise für den von Russland behaupteten Genozid auf ukrainischem Territorium. Solche Richtigstellungen sind in diesem Krieg nicht zuletzt deshalb essenziell, weil Russland immer wieder völkerrechtliche Argumente in Anschlag bringt, um den Krieg an sich, möglicherweise aber auch den Einsatz bestimmter inhumaner Waffen, zu begründen.

Zweite Resolution – nun mit humanitärem Fokus

Der Generalversammlung ist es im Unterschied zum Sicherheitsrat indes gelungen, im Rahmen ihrer Notstandssitzung eine zweite Resolution, nun mit einem humanitären Schwerpunkt, zu verabschieden: Diese rückt die untragbare Situation der Zivilbevölkerung, insbesondere in den belagerten Städten, in den Mittelpunkt. Die Verantwortung dafür schreibt sie in ihrem Titel („Humanitarian consequences of the aggression against Ukraine“) wie auch in ihrem Text Russland zu. Russland wird darin erneut aufgefordert, seine Offensive bedingungslos einzustellen und seine Streitkräfte hinter die „international anerkannten Grenzen“ der Ukraine zurückzuziehen. Außerdem verurteilt die Generalversammlung Verletzungen des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte bei der Kriegsführung und ruft alle Parteien auf, das Unterscheidungs- und das Vorsorgegebot einzuhalten sowie die Rechte von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen zu respektieren und zu schützen.

Verschiedene andere UN-Organe und -Organisationen sind politisch wie operativ ebenfalls mit der humanitären Lage im Kriegsgebiet und in den Grenz- und Nachbarregionen befasst. Der UN-Generalsekretär António Guterres rief die Konfliktparteien am 28. März 2022 zu einem sogenannten „humanitären Waffenstillstand“ auf. Er verwies dabei auf die Millionen vom Krieg betroffenen Menschen, denen die Vereinten Nationen humanitäre Hilfe leisten –­ das Welternährungsprogramm mit Lebensmitteln, die Weltgesundheitsorganisation mit medizinischer Versorgung oder das UN-Kinderhilfswerk mit Hilfslieferungen für Kinder und Familien. In Zusammenarbeit mit der Organisation für Migration hilft auch das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) auf vielfache Weise Flüchtenden und Binnenvertriebenen im Land selbst und an den Grenzübergängen – mit Empfangszentren und Administration, aber auch mit Unterkünften und Versorgung. Das Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten ist zuständig dafür, dass sich die UN-Organisationen untereinander sowie mit anderen Partnern abstimmen; außerdem schätzt es mit der Publikation „Ukraine Flash Appeal“ den finanziellen Bedarf ein und überwacht dessen Deckung durch Beiträge der Mitgliedsstaaten und Spenden.

Für die Vereinten Nationen und ihre Arbeit gilt in dieser Situation das gleiche wie für andere Akteure und deren Maßnahmen: Weder gibt es die eine Organisation beziehungsweise den einen Hebel, der diesen Krieg beenden kann, noch hat die Staatengemeinschaft ein Instrument zur Verfügung, mit dem das hätte kurzfristigerreicht werden können. Wann und wie der Krieg beendet werden kann, hängt vom mittel- bis langfristigen Zusammenspiel verschiedener politisch-diplomatischer, ökonomischer und militärischer Kräfte ab. Obwohl die UN, wie eingangs erwähnt, in dieser Krise nicht ihr gesamtes Instrumentarium einsetzen können, um den internationalen Frieden wiederherzustellen, sind sie Teil dieses Zusammenspiels, indem sie politisch-diplomatisch Einfluss nehmen und daneben versuchen, die Folgen des Krieges zu lindern und seine Opfer zu schützen und zu unterstützen. Wir dürfen erwarten, dass die Vereinten Nationen deutlich sichtbarer werden, wenn ein Waffenstillstand erreicht ist und sie sich – hoffentlich – mit ganzer Kraft in die Friedenssicherung einbringen können.

Elvira Rosert, Juniorprofessorin für Internationale Beziehungen an der Universität Hamburg und am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH).

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