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Debatte: Effektive kollektive Friedenssicherung ohne UN-Reform? – Die ‚versunkenen Schätze‘ der UN-Charta

Wenn ein ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates gegen eine Resolution stimmt, so ist der Sicherheitsrat blockiert. Damit die UN handlungsfähig bleiben, braucht es aber keine Änderung der Organisation selbst – vielmehr schlummert die Lösung in den Tiefen der Charta. Ein Debattenbeitrag.

Originalmanuskript der UN-Charta
Originalmanuskript der Präambel der UN-Charta (UN Photo)

„Die Menschheit setzt ihre Hoffnungen nicht mehr auf die Weltorga­nisation, wenn es um die Verteidigung der souveränen Grenzen der Nationen geht.“ Dieses eindrückliche Zitat des ukrai­nischen Präsi­denten Wolodymyr Selenskyj vor dem UN-Sicher­heitsrat im September 2023 stellt keineswegs die kritische Meinung eines einzelnen Staats­chefs dar. Vielmehr ist die Aussage fast schon sympto­matisch für den derzeit stattfindenden Verlust an Vertrauen in den Sicher­heitsrat, in die UN und in multi­laterale Institu­tionen auf der ganzen Welt.

Dabei ist die Blockierung des Sicher­heitsrats durch die Vetomächte auch bei drängenden Konflikt­fragen natürlich keine Entwicklung des 21. Jahrhunderts, sondern ein Phänomen, das spätestens in der Hoch­phase des sogenannten Kalten Krieges seinen arche­typi­schen An­wendungs­bereich fand: Bereits in seiner Sitzung am 25. Oktober 1962 bewies der Sicherheitsrat seine Handlungs­unfähigkeit: Die Kubakrise konnte nur durch bilaterale Verhand­lungen zwischen den USA und der UdSSR eingedämmt werden. Im Sicher­heitsrat hingegen wurden die Gespräche zur Krisen­situation schließlich unter Hinweis auf das Vetorecht vertagt. Dies zeigt eindrücklich, dass der Sicher­heitsrat nicht in der Lage war, eine Krise für die internationale Sicherheit und den Weltfrieden effektiv einzu­dämmen.

An dieser Analyse hat sich bis heute wenig verändert. Die Block­kon­frontation des Kalten Krieges mag einer diver­sifizier­ten und pluralen Welt­ordnung gewichen sein, aber die Gegensätze zwischen insbesondere Russland, China und den USA, Großbri­tannien sowie Frankreich sind immer noch deutlich. Wenn sich Selenskyj also kritisch über Russlands Mitglied­schaft im Sicherheitsrat äußert, so ist das (auch) ein Hinweis darauf, dass der Sicher­heitsrat in Konstel­lationen, in denen die fünf ständigen Mitglieder nicht einer Meinung sind, oftmals blockiert ist.

Mit dieser Befürchtung ist Präsident Selenskyj keinesfalls allein: Die scheidende deutsche Bunde­sregierung spricht sich offen für eine Reform dieses Gremiums aus, im wissen­schaftlichen Diskurs werden Möglich­keiten einer Reform schon lange diskutiert und auch auf diesem Blog wurde die Not­wendigkeit einer Reform bereits betont. Dabei machen die Autorinnen und Autoren keinesfalls beim Sicherheitsrat Halt. Vielmehr soll die ganze Organisation der UN reformiert werden, wofür sich auch General­sekretär António Guterres ausspricht.

Eine Reform des Vertrags­werks, allen voran der UN-Charta, würde aber am Vertrauens­verlust nichts ändern, dem sich die UN gegenübersehen. Denn: Vorschriften, die zu verbindlicheren Entscheidungen führen würden, existieren bereits, sie werden nicht angewendet.

Art. 27 III 2. Hs – Das Gebot der zwin­genden Stim­men­thaltung

Die ganze UN-Charta ist vom Vetorecht bestimmt? Die ganze Charta? Nein, die kleine Vorschrift Art. 27 Abs. 3 hört nicht auf, dem Vetorecht Widerstand zu leisten. Denn diese Norm gebietet es den Sicherheitsratsmitgliedern, sich bei einer Entscheidung zu enthalten, wenn sie selbst Streitpartei sind. In solchen Konstellationen dürfen die Sicher­heitsrats­mitglieder also das Vetorecht nicht anwenden, sondern müssen sich enthalten!

Nicht unter­bleiben darf an dieser Stelle aber natürlich der Hinweis, dass sich Art. 27 Abs. 3 ausdrücklich nur auf Beschlüsse des Sicher­heitsrates unter Kapitel VI oder unter Art. 52 Abs. 3 bezieht. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass bei Beschlüssen, die Gewalt legitimieren, ein Veto eingelegt werden darf, auch wenn der Veto-Staat selbst Streitpartei ist. Das relativiert den Gehalt der Vorschrift natürlich. Verfehlt wäre es aber ebenfalls, Art. 27 Abs. 3 überhaupt keine Bedeutung beizumessen: Auch die Maß­nahmen unter Kapitel VI der Charta sind geeignet, Konflikt­situationen präventiv anzugehen und den Weltfrieden zu bewahren. Nicht immer wird diese Norm aber angewandt und jedenfalls erhält sie nicht die öffentliche Aufmerksamkeit, die sie benötigt. Die Diskussion um die Reform des Vetorechts lässt außer Acht, dass unter Kapitel VI kein Veto möglich ist, sofern diese Veto-Macht selbst betroffen ist. Eine stärkere Betonung dieser Norm vermag möglicherweise, das Vertrauen in die Frie­dens­siche­rungs­kapa­zitäten der UN zu stärken.

Art. 109 Abs. 3 – Die Reform von innen

Wenn Kritikerinnen und Kritiker sich auf mögliche Reformen der UN berufen, entsteht zum Teil der Eindruck, es müsse eine radikale Veränderung der Charta von den Mitglied­staaten herbeigeführt werden und die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates müssten sich dafür aussprechen. Dass dieses Bild nicht ganz korrekt ist, zeigt Art. 109 Abs. 3: Ausweislich dieser Vorschrift war die Charta, wie wir sie heute kennen, eigentlich als Pilotprojekt gedacht. Sie sollte zehn Jahre lang ausprobiert werden und danach sollte eine Konferenz zur Überarbeitung und Verbesserung einberufen werden. Zwar fand diese Konferenz statt – allerdings mit einem ernüchternden Ergebnis: 1955 wurde die Charta nicht verändert. Vielmehr wurde die Voraus­setzung dafür geschaffen, dass unter Art. 109 Abs. 1 die Charta verändert werden könnte. Eine materielle Änderung fand jedoch nicht statt. Wo ein Überprüfungs­mechanismus und eine Erfolgs­kontrolle geplant waren, herrscht heute gähnende Leere. Eine Konferenz, die wirklich etwas ändert, könnte aber ohne Probleme – und auch gegen den Willen der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates – einberufen werden. Es braucht nur die Hälfte der Mitglieder der General­versammlung oder sieben (ständige oder nicht-ständige) Mitglieder des Sicherheitsrates.

Die Mütter und Väter der Charta waren also sehr wohl darauf vorbereitet, dass ihre Organisation den Weltfrieden nicht perfekt sichern könnte. Dafür haben sie einen Überprüfungs­mechanismus eingebaut, mit welchem Schwächen der Organisation erkannt und ausgebessert werden sollten. Die Mitgliedstaaten wären gut beraten, sich dieses Mechanismus zu bedienen.

Frieden schützen, heißt Normen ernst nehmen

Diese Normen widerlegen Selenskyj und seine Sorge um die internationale Sicherheit keinesfalls. Offensichtlich können die UN bedeutende Konflikte unserer Zeit nicht immer wirksam bekämpfen. Ob dieses Manko an Effektivität aber durch eine Reform der UN erreicht werden kann, ist mehr als zweifelhaft. Wie hier gezeigt, existieren schon einige Mechanismen, welche den UN bei der Friedens­sicherung mehr Effektivität und Legitimität einräumen würden, aber sie werden nicht genutzt. Und sie werden nicht genutzt, weil es die Staaten so wollen. Daraus lässt sich schluss­folgern, dass weitere Regelungen in der Charta zur Friedens­sicherung – sofern man sie überhaupt einführen könnte – von den Mitglied­staaten genauso ignoriert werden könnten wie Art. 27 Abs. 3 oder Art. 109 der Charta.

Wollen die UN das Verhalten der Staaten einschränken, so müssen sie der kreativen Auslegung der Charta durch die Mitglied­staaten eine normentreue, am Text der Charta orientierte Position entgegenhalten. Der General­versammlung bietet sich hier die Chance, einmal mehr Innovations­bereitschaft zu zeigen. Sie könnte häufiger und selbstbewusster die Uniting for Peace-Resolution anwenden und weitere, vergleichbare Maßnahmen treffen. Außerdem könnte sich der Inter­nationale Gerichts­hof (Inter­national Court of Justice – ICJ) selbstbewusst zur Kontrolle von Sicher­heitsrats­resolutionen ermächtigt sehen. Kurzum: Würden die UN ihre Charta ernster nehmen, könnten sie den Weltfrieden effektiver sichern.

Tim Pöppel

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