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Immer mehr ukrainische Minen­räume­rinnen im Einsatz

Ukrainische Frauen übernehmen zunehmend führende Rollen im Bereich der Minenräumung. In Kosovo werden sie nach von den UN anerkannten Standards ausgebildet, um die vielen Landminen und Bomben in der Ukraine zu entschärfen – einem Land, das laut den UN derzeit das am stärksten verminte der Welt ist.

Die Frauen auf dem Bild gehören zu einer Gruppe ukrainischer Frauen, die an der renommierten „Mine Action & Training (MAT) Kosovo“-Schule in Peja eingeschrieben sind. Diese internationale Institution ist spezialisiert auf die Entschärfung explosiver Kampfmittel (EOD) und die Beseitigung nicht detonierter Sprengkörper (UXO). Dort erweitern sie nicht nur ihr technisches Wissen, sondern werden auch für Führungsrollen in diesem gefährlichen Beruf ausgebildet.
Ukrainische Frauen nehmen an einer Schulung des MAT Kosovo in Peja teil. (Foto: Isabelle de Pommereau)

Im west­koso­varischen Peja stehen an einem klaren Herbst­nach­mit­tag 24 Ukraine­rinnen und Ukrainer – vor allem Frauen – im Kreis um eine rostige FAB-500-Bombe aus der Sowjet­zeit. Sie symbolisiert zugleich ein Trainings­werk­zeug und eine düstere Erinnerung an den anhaltenden Krieg in der Ukraine. Die Mission der 24 Auszu­bildenden im Mine Action & Training (MAT)-Kosovo-Zentrum. Nicht weniger entscheidend als die Front­kämpfe: Land­minen, nicht explo­dierte Bomben und Granaten von Feldern, Straßen und Ruinen zu entfernen – die tödlichen Hinter­lassen­schaften des Krieges.

Das Ausmaß dieser Aufgabe ist enorm. Fast drei Jahre nach Beginn der russischen Invasion gilt die Ukraine laut den Vereinten Nationen als das am stärksten verminte Land der Welt. Für diese Frauen – von der Barista bis zur CEO – hat der Krieg das Leben radikal verändert. Jetzt sind sie vereint in ihrem Ziel: die frucht­baren Felder ihrer Heimat zurück­zu­gewin­nen, einst bekannt als "Korn­kammer der Welt".

Ein Job für alle Ge­schlech­ter

Bis vor Kurzem war das Minen­räumen eine Männer­domäne, da Frauen aufgrund sowje­tischer Traditionen ausge­schlossen wurden. Heute machen sie 30 % der rund 4000 Minen­räumerinnen und Minen­räumer der Ukraine aus, eine Zahl, die sich seit 2022 mehr als ver­dop­pelt hat. Nun sind diese 16 Frauen, die schon in der Ukraine eine Grund­aus­bil­dung in Minen­räumen absolviert haben, im MAT-Kosovo-Zentrum in Peja, um ihre Fähigkeiten weiter zu vertiefen. Dieses inter­national aner­kannte Zentrum hat seit Kriegs­beginn 436 Ukraine­rinnen und Ukrainer ausge­bildet, darunter 87 Frauen, unterstützt durch internationale Spenden. 

Die Schulung folgt den von den Vereinten Nationen empfohlenen inter­nationalen Standards für Minen­aktio­nen. Im MAT-Zentrum befinden sich die Auszu­bildenden mitten in einem fünf­wöchigen Kurs der Stufe 3 zur Ent­sorgung explosiver Kampf­mittel (EOD), der zweit­höchsten Qualifikation auf diesem Gebiet. Die heutige Lektion behandelt die Theorie zur Ent­schärfung von ‘voll funktions­fähigen’ Bomben wie den 500-Kilo­gramm-Spreng­körpern, die die Ukraine übersähen. Der Lehrplan umfasst die Identi­fizierung von Bomben, die sichere Neutrali­sierung von Spreng­stoffen und den Umgang mit Meldungen über verdächtige Objekte.

"Das hier ist das einzige Teil, das ‚Boom‘ macht", erklärt Ausbilder Stew Burgess, ein ehemaliger Waffen­experte der britischen Luft­waffe, und zeigt auf den Zünder der Bombe. "Alles andere ist Antrieb und Sprengladung." Manche Zünder sind mit Fallen versehen oder äußerst instabil, sodass sie schon beim geringsten Kontakt detonieren. "Sie sind dafür gemacht, zu töten."

Anas­tasiia Minchukova, 23, übersetzt seine Worte vom Englischen ins Ukrainische. Die ehemalige Sprach­studentin war eine der ersten acht Frauen, die im April 2022 in Peja trainierten. Seit der Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 wusste sie: "Wenn ich erwachsen werde, werde ich keine Wahl haben; ich werde kämpfen müssen." Weil sie aufgrund ihres Alters nicht an die Front durfte, entschied sie sich, ihren Beitrag durch Minen­räumen zu leisten. "Eine Mine interessiert sich nicht dafür, ob du ein Mann oder eine Frau bist", sagt sie. "Wir brauchen jeden, der willens und fähig ist. Die Ukraine kann es sich nicht leisten, auf ihre Frauen zu verzichten."

Nika Kokareva, 40, leitet seit sechs Monaten ein Team der Mine Advisory Group (MAG), das ein riesiges Sonnen­blumenfeld in der Nähe ihrer Heimat­stadt Mykolajiw räumt. "Ich will lernen, wie man Zünder entfernt, Spren­gungen durchführt und entscheidet, ob ein Spreng­körper sicher bewegt werden kann", sagt sie. Die ehemalige Hotel­ange­stellte wandte sich den Minenräumen zu, nachdem sie die Zerstörungen des Krieges hautnah miterlebt hatte. "Dieser Kurs ist eine einmalige Chance", sagt sie. "Das Land meiner Stadt zu räumen bedeutet mir alles. Danach gehe ich in den Osten. Wir haben zehn bis zwanzig Jahre Arbeit vor uns."

Oksana Omelchuk, 35, wechselte vom Natur­schutz zur Ent­minung, nachdem russische Bomben ihre Arbeit in National­parks unmöglich gemacht hatten. "Es ist schwer, sich auf die Natur zu konzentrieren, wenn Menschen ihr Zuhause und ihr Leben verlieren", sagt sie. Die Arbeit auf Feldern nahe Mykolajiw für die MAG ist für sie "gesell­schaftlich wichtig und hält mich gleichzeitig in der Natur".

Bar­rie­ren ü­ber­win­den, Zu­kunft ge­stal­ten

Der Aufstieg von Frauen in Minen­räumen markiert einen tief­grei­fenden Wandel. Auf dem 20. Inter­natio­nalen Sympo­sium für Minen­aktionen in Dubrovnik im ver­gangenen April betonte Ben Remfrey, Gründer des MAT Kosovo, die trans­formative Rolle von Frauen in der Minen­räu­mung. Noch 2016 und 2017 wurden dort lediglich nur zwei Frauen aus­gebildet. Bis Ende 2024 werden es über 84 Ukraine­rinnen sein. Mit Unterstützung von Initiativen wie der NATO-Strategie zur Agenda ‘Frauen, Frieden und Sicherheit’, die auf Resolutionen des UN-Sicher­heits­rats basiert, hat die Ukraine Geschlechter­gerechtigkeit als festen Bestandteil ihrer Minen­räum­politik etabliert. Studien belegen, dass gemischte Teams effektiver arbeiten und betroffene Gemein­schaften besser einbeziehen. Internationale Gelder – darunter 70 Millionen US-Dollar, zugesagt auf der Ukraine Mine Action Conference, auch vom UN-Ent­wicklungs­programm (United Nations Development Programme – UNDP) – haben die Aus­bildungs­program­me ukrainischer Frauen beschleunigt.

Für Iryna Kustovska, Absolventin des MAT-Zentrums, ist dieser Wandel revolutionär. "Früher waren Frauen in Minen­räumen ‘eine Sensation’. "Jetzt heißt es einfach: ‘Du bist Minenräumerin’", sagt sie. Durch den anhaltenden Krieg in der Ukraine und der daraus resultierenden Expansion des Sektors wächst der Bedarf an Fachkräften. “Leider wird humanitäres Minenräumen für Jahrzehnte eine Priorität bleiben”, sagt Kustovska.

Eine Mis­sion über den Krieg hinaus

Nur wenige Wochen nach ihrem Abschluss im Kosovo ist Nika Kokareva bereits wieder auf den Feldern bei Mykolajiw im Einsatz. Der Winter naht, und sie arbeitet mit Hochdruck: “Wir müssen die Felder räumen – die Landwirte warten”, sagt sie. Doch einige Bauern riskieren, unge­räumte Felder zu bestellen, was eine große Gefahr darstellt.

Weiter östlich, nahe Isjum, führt die 55-jährige Halina Burkina ihr Team durch zerstörte Dörfer, die unter den Kämpfen und der Besatzung gelitten haben. Die Arbeit ist anstrengend, mühsam und gefährlich: “Alles, was abgefeuert werden konnte, flog hier”, beschreibt sie die Überreste – von Patronen bis zu Raketen. An manchen Tagen räumt sie weniger als einen Meter.

“Hier draußen spielt es keine Rolle, ob du Mann oder Frau bist. Alle werden müde, schmutzig und halten sich an dieselben Regeln”, sagt Burkina. Für Kokareva, Burkina und die wachsende Zahl ukrainischer Frauen im Mi­nen­räumungs­bereich ist diese Arbeit weit mehr als ein Beruf – sie ist eine Mission, die Zukunft der Ukraine zu sichern. “Es fühlt sich gut an, Dinge zu zerstören, die Menschen töten”, sagt Kokareva. “Ein kleiner Schritt, um unser Land zurück­zu­gewin­nen.”

Isabelle de Pommereau.

Dieser Artikel wurde in Zu­sammen­arbeit mit der ukrainischen Journalistin Yulia Surkova erstellt. 

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